Diese Geschichte ist wahr, nur die Namen und Orte wurden anonymisiert.

Ali Mohammad ist ungefähr 23 oder 24 Jahre alt und aus einer afghanischen Provinz, die schon lange von Taliban besetzt ist. Er kam vor ca 3 Jahren nach Österreich.

Seine Familie lebte von einem kleinen Geschäft, das Handys, Simkarten und tägliche Bedarfswaren verkaufte, außerdem war man zuständig für die Auszahlungen an staatliche Polizeibeamte. Der Vater war bald verstorben, so musste Ali für seine Mutter und seine jüngeren Geschwister das Geschäft übernehmen. Das Geschäft, vor allem die Simkarten und die Polizeiauszahlungen waren natürlich für die Taliban nicht wirklich zu tolerieren und so wurde Ali auch bald festgenommen und endlos lange verhört um ihn zu einer Mitarbeit zu bewegen. Die Alternative war klar, sie bedeutete den Tod. Ali konnte flüchten. Bald darauf wurde sein Haus zerbombt, gemeinsam mit der nebenstehenden Grundschule. Alis Schwester starb bei dem Angriff.

Ali ist sehr gläubig und konnte – nach erfolgreicher Flucht – zunächst seinen Augen nicht trauen. Die Welt präsentierte sich für ihn anders als er es jemals für möglich gehalten hätte. So viele Haare – so viele Frauen, das war ihm eigentlich nicht klar, dass es so viele Frauen auf der Welt gibt. Und NICHTS was er gelernt hatte an Werten, Sitten und Normen galt noch.

Auch wenn die Regime in seiner Heimatprovinz furchtbar waren und er immer nur stockend und nur selten von den Vorfällen, den Steinigungen, den Tötungen und den unzähligen Übergriffen und Restriktionen erzählen konnte, war er in diesem Land aufgewachsen und so sozialisiert: Man betet, versucht ein guter Moslem zu sein, lügt nicht, trinkt nicht, raucht nicht, sieht keinen Frauen in die Augen, arbeitet fleißig und vor allem: MAN HINTERFRAGT NICHTS. Kritik, oder selbstständiges Denken ist nicht erwünscht, es setzt voraus, dass man sich mit Gott gleichstellt, der ja schon alle Regeln geschrieben hat, und es ist vor allem sündig, das zu tun.

Nun hatte es Ali hier in Österreich nicht leicht in seiner Unterkunft. Die anderen Afghanen waren eigentlich nicht so besonders gläubig, die meisten rauchten, andere schliefen ständig, manche tranken Alkohol, viele beteten gar nicht mehr. Die Betreuer waren nach muslimischen Maßstäben furchtbar – auch die rauchten und tranken in ihrer Freizeit Alkohol, waren überhaupt nicht einmal richtige Christen – vom Schweinefleischgenuss mal ganz abgesehen.

Als ihm seine Betreuerin einmal ihr vom Radunfall zerschundenes Knie zeigte, war es ihm gar nicht möglich, dieses anzusehen – weibliches Knie sehen = Sünde. Die Betreuerin war 50. Ihr Knie war sicher gar nicht sündig. Irgendwie war das Ali schon klar. Aber irgendwie auch nicht. Es wurde heftigst diskutiert. Die Betreuerin zeigte ihm gemeinerweise noch oft die Heilungsfortschritte ihres sündigen Knies und Ali gewohnte sich langsam an den nicht besonders ästhetischen Anblick. Aber dieser war sehr ähnlich zu seinem eigenen vom Fußball zerschundenen Knie. Wie so ein Knie halt aussieht wenn man sich abschürft und verletzt. Seins war haariger. Das stellte die Betreuerin auch fest, die ohne den Gedanken an Sünde sein Knie wunderbar verarzten konnte.

Und Ali lernte: Es geht nicht um die Religion. Es geht darum, was im Herzen steckt. Das was du siehst ist wichtiger als das was du gelernt hast. Du kannst neue Sachen lernen. Dinge sind nicht unbedingt so, wie du geglaubt hast.

Jetzt ist Ali in Frankreich, in einem Ort an der deutschen Grenze. Alle seine Ansuchen in Österreich wurden abgewiesen. Es reicht, einmal in Kabul gewesen zu sein um  die Stadt zynisch als innerstaatliche Fluchtalternative präsentiert zu bekommen. Er wollte vor lauter Verzweiflung schon zurück, doch seine Mutter verbat es. Sie hörte von ganzen Talibanlagern, der rund um den Flughafen Quartier aufgeschlagen haben, um die sündigen Westler, die aus Europa zurückkommen, gleich sofort einzukassieren und auf den rechten Weg zurückzubringen. 

Dann gibt’s keine Knie mehr.

Dann gibt’s keine Gespräche mehr.

Keine Diskussionen.

Dann gibt’s wieder Steinigungen.

Und dann wäre sich Ali wirklich sicher, dass vieles falsch ist.

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